Abstract
Wichtige Reformperioden des europäischen Theaters im 20. Jahrhundert waren mit der Frage verbunden, wie neue Konzeptionen des Menschen und des menschlichen Zusammenlebens auf der Bühne zur Darstellung kommen können. Das Theater schien prädestiniert zu einer solchen Reflexion über Möglichkeiten des Menschlichen, weil es zugleich weithin als eine anthropozentrische Kunstform galt. Noch in Zusammenhang der Neoavantgarde seit den 1960er Jahren wurde in einflussreichen Manifesten die Auffassung vertreten, mehr als den einzelnen, vor Publikum exponierten Menschen im Raum brauche es nicht, um eindrucksvolles Theater zu machen. Diese Anthropozentrik des Theaters (bzw. eines bestimmten Theaterkonzepts) ist im beginnenden 21. Jahrhundert in die Kritik geraten. Ein ‚posthumanes‘, nicht mehr so stark auf den menschlichen Akteur fokussiertes Theater wird vielfach gefordert in einigen Bereichen – etwa im Objekttheater und in mehr installativen Theaterformen – durchaus auch umgesetzt. Was bedeutet diese (partielle) Abwendung vom Menschen für das Verhältnis von Theater und Anthropologie? Ist es auch heute noch möglich, auf der Bühne Visionen eines neuen Menschen bzw. neuer Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln? Wie steht es um die Theateranthropologie, die sich im 20. Jahrhundert sowohl als eine Spielart von Theaterpraxis als auch als wissenschaftlicher Forschungsbereich entwickelt hatte?