Vergleiche zwischen Glauben und Wahn

Archive for the Psychology of Religion 11 (1):47-56 (1975)
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Abstract

Eine geistliche Schwester erkrankte ungefähr mit 22 Jahren erstmalig an einer Erscheinung, die ihr - optisch - den Tod des Vaters und seine Himmelsfahrt verkündete. Ohne Zweifel fühlte sie sich selbst bereits damals- wie es für 1966 sicher angenommen werden kann - als eine von Gott Ausersehene. Die Himmelsfahrt des Vaters ist Ausdruck ihrer hohen Abkunft. Drei Jahre später glaubte sie eine Heilige zu sein, die Leiden anderer auf sich nehmen zu können, wurde von Glauben und Hoffnung geführt, glaubte Christus in sich zu haben und mit Gott auf Du und Du zu stehen. Sie hielt es aber nicht durch, fiel tief, bekam Schuldgefühle, fühlte sich verdammt, ewig verloren. Es kam zu keiner Vollremission, sie konnte in einer untergeordneten Stelle aber wieder arbeiten, obgleich sie Schwierigkeiten in der sozialen Eingliederung hatte, auch eine gewisse Leistungsinsuffizienz und geringe Belastbarkeit sich herausstelle. Zwei Jahre später kurzes Recidiv nach einem aufwühlenden Film . Wieder glaubte sie durch Versenkung anderen helfen zu können im Sinne der kleinen Therese. Die große Therese war die bedeutendste Mystikerin, die kleine Therese - die die Pat. wohl meinte - war bekannt durch ihre Wunderheilungen auf Grund ihrer Fürbitte. Sie glaubte auserkoren gewesen zu sein, versagt zu haben, von den anderen diesbezüglich nicht verstanden zu sein - nicht einmal im eigenen Orden. Die Ideen traten aber nach Abklingen der Phasen jeweils wieder in den Hintergrund, der Alltag nahm sie wieder gefangen. Nach weiteren zwei Jahren weitgehende Remission, arbeitete wieder unauffällig. Es ist ohne Zweifel und jedermann ersichtlich, daß hier zunächst auffallende Ähnlichkeiten bestehen. Einmal ist es ein Mensch, der durch den drohenden Tod transzendenten Dingen aufgeschlossen wird, ein anderes Mal betrifft es eine Person, die durch ihren erwählten geistlichen Beruf von vorneherein solchen Dingen gegenüber aufgeschlossen ist. Beide erleben optische Visionen, aber ebenso eine gewisse Verunsicherung ihrer bisherigen Lebens-situation. Ignatius schwankte zwischen Fortführung des weltlichen Lebens und einem neuen geistlichen Leben. Schwester L. fühlte sich zunächst als Spielball Gottes. Beide fühlen sich aber dann als eine von Gott ausersehene, berufene Person. Glaube, Vertrauen und Hoffnung sind für beide Tragpfeiler ihres Lebens, die von ihnen gewünschten Tugenden. Beide strebten danach, Christus bei sich zu haben. Jede erlebte eine Depression mit Schuldgefühlen, Skrupeln, Gefühl der Verdammtheit bzw. dem Gefühl, der Versuchung durch einen Teufel erlegen zu sein. Beide befürchten ihr neues Ich nicht verwirklichen zu können. Es wird so deutlich - und dies ließe sich an Hand ähnlicher Fälle anderer Heiliger oder anderer religiöser Wahnideen ebenso nachweisen - daß der Beginn in all diesen Fällen weitgehend derselbe war. Immer ist es zunächst ein passives Erleben, ein Hereinbrechen eines "Ganz-Anderen" und ein persönliches Betroffensein des Ich. Eine Welt tut sich in einer solchen Situation auf, die nicht mit Ratio oder Logik faßbar ist, viel eher dem Geschehen einer Innenschau verglichen werden kann. Bei Ignatius kam es nun aber anschließend zweimal zu Wandlungserlebnissen im Sinne einer Erleuchtung, großen Klarheit im Verstande, die ihm seine neue Aufgabe und Rolle in der menschlichen Gemeinschaft nicht nur deutlich machten, sondern ihn auch in dieser Position sicher machten. Seine geistliche Hilfe bot er seinen Mitmenschen unzählige Male in Predigten und Aussprachen an und er wurde als geistlicher Führer auch überall angenommen. Durch ihn kam es zu einer sehr bedeutenden Ordensgründung für viele Jahrhunderte und zu einer Schaffung zahlreicher frommer Werke. Dies alles blieb bei der Patientin Schwester L. aus. Sie war zur Zeit ihrer Visionen unfähig, ihren Alltagspflichten im Kindergarten nachzukommen, sie fühlte sich von weltlichen wie geistlichen Personen unverstanden. Ein nachfolgendes Reifungserlebnis blieb völlig aus, wie der nun jahrelange Verlauf nachher deutlich macht. Es ist also der Verlauf, der uns jederzeit eine Differentialdiagnose leicht macht. Die Erleuchtung allein könnte auch im Rahmen von manischen Größenideen bei einem Kranken auftreten. Die Erleuchtung bei Ignatius war aber verbunden mit Taten von großer Bedeutung wie der Errichtung frommer Werke, Stiftungen von Satzungen, Tröstung vieler Menschen durch geistliche Gespräche etc. Es zweifelt heute niemand daran, daß durch seine Tat ein Werk von jahrhundertelanger Bedeutung errichtet wurde. Darüber hinaus ist er auch selbst ein Mensch mit einer neuen Freiheit geworden, innere Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und menschliche Größe kennzeichnen ein solches Bild. Bei Schwester L. war es aber so, daß sie neben der Vernachlässigung ihrer Alltagspflichten auch in keiner Weise fähig war anderen zu helfen, etwa dasLeid anderer auf sich zu nehmen, wie sie es sich vorstellte. Sie war im Gegenteil eine Belastung für die anderen Schwestern dieser geistlichen Gemeinschaft. Schwester L. zog sich von den Mitmenschen zurück, während Ignatius unter die Menschen ging, um sie aufzurichten. Schwester L. war in ihrer psychotischen Phase emotionell eingeengt, intentional - zu-mindestens teilweise - gelähmt und in ihrer persönlichen Freiheit ohne Zweifel gemindert. Demgegenüber war Ignatius von Loyola besonders tief empfindend, er verfügte über unendlich große - "überirdische" - Kräfte, die es ihm ermöglichten, nicht nur viel Leid mitzutragen, sondern darüber hinaus ein großes geistliches Werk aufzubauen. Dieses sein neues Ich machte irdische Freuden hinfällig, es ermöglichte ihm eine tiefere Wahrheit zu sehen, zu erleben und zu verwirklichen. Der Wahn bei Schwester L. ließ sie aber bestenfalls eine tiefere Wahrheit sehen, aber es war ihr nicht möglich dies so zu erleben, daß sie es auch verwirklichen konnte. Ignatius von Loyola hatte Vertrauen zur Welt und die Welt zu ihm, während Schwester L. dieses Vertrauen verloren hatte, sich in sich zurückzog, unverstanden fühlte und tatenlos blieb. Gerade auf diesen Vertrauensverlust auf der Seite des Kranken und Vertrauensgewinn auf der Seite des Heiligen weist G. Hole mit besonderer Deutlichkeit hin. Man könnte mit anderen Worten auch sagen: Es entscheidet sich nicht sofort, was aus einem Geschehen wird, das sich in der Transzendenz ereignet und ich-bezogen erlebt wird. Es kann zu einer neuen Selbstverwirklichung, zu einer Reifung der Person und größeren Freiheit führen. Es kann aber ebensogut zu einer Einbuße der Freiheit führen, in dem die Person nur mehr der Wahnidee verhaftet bleibt und dann nicht mehr über sich oder über andere Möglichkeiten einer Weltbetrachtung bzw. eines Welterlebens verfügen kann. Es ist wie mit der Kreativität in künstlerischer Hinsicht. Im Beginn einer Psychose können bemerkenswerte Kunstwerke entstehen. Bei einer länger bestehenden Psychose werden aber auch die Kunstwerke den Stempel der Stereotypie tragen, wenig Einfallsreichtum zeigen und ihre künstlerische Aussage wird meist geringer werden. Der Vergleich eines Glaubenserlebnisses bei einem Heiligen mit dem religiösen Wahn bei einer geistlichen Schwester ergibt charakteristische Ähnlichkeiten, wie sie vor allem am Beginn vorhanden sind, und charakteristische Differenzen, wie sie vor allem aus dem Verlauf ersichtlich werden. Die Ähnlichkeiten bestehen darin, daß ein Ereignis auf das Ich von Außen hereinbricht, es verändert, sodaß durch dieses Ereignis ein neues Ich wird. Die Differenz besteht darin, daß dieses neue Ich entweder eine gereiftere, dem Geschehen in der Welt und noch mehr in der Transzendenz aufgeschlossenere Person sein wird, oder es wird eine Person sein, die ein solches Erlebnis innerlich nicht verarbeiten konnte und daran zerbricht. Der Wahnkranke wird zwar dem Erlebnis verbunden bleiben wie bei einem Glaubenserlebnis, er wird aber im Gegensatz zum letzteren an innerer Freiheit verloren haben. So wird der Wahn zu einem Torso bzw. Defekt der Person führen, während im ersteren Fall eine vollkommenere Stufe des Mensch-Seins entsteht

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The Varieties of Religious Experience.William James - 1903 - Philosophical Review 12 (1):62-67.

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