Die Rabbinische Kritik an Gott

Zeitschrift für Religions- Und Geistesgeschichte 7 (3):13-223 (1955)
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Abstract

Die Kritik der Rabbinen an Gott erweist sich keineswegs als eine Schwächung der Glaubenskraft oder gar als verhüllter Atheismus; sie weist zwar dadurch, daß sie nur bei Einzelnen auftritt und nicht eigentlich die Stimme der Gemeinde, d. h. einen sensus communis, darstellt, auf die Tatsache hin, daß es Richtungen, Spaltungen, Häresien im Rabbinismus gegeben hat - eine Tatsache, die uns auch ohnedies schon bekannt ist. Das Bemerkenswerte jedoch daran ist, daß die kritischen Elemente ertragen worden sind und das Judentum der Kritik in seiner eignen Mitte standgehalten hat: die jüdische Gemeinde ist daran nicht zugrunde gegangen, ihr Glaube war stark genug, auch damit fertig zu werden. Ferner darf man diese Kritik an der Gottheit, sogar als einen Erweis lebendigen Umgangs mit ihr betrachten: Gott ist gleichsam auch der Gefährte des Menschen, nicht nur der Herr, und diese Einstellung des Rabbinismus mag als ein fast notwendiges Supplement - oder wenn man will, ein Korrelat - zur Vorstellung von der Überweltlichkeit Gottes und von seinem Getrenntsein von der Welt, wie sie sonst das Judentum bestimmt, angesehen werden. Gott als der Gefährte des Menschen begegnet uns ja auch gelegentlich im Neuen Testament: er bedarf, obschon der "Herr der Ernte", der Erntearbeiter Mt. 9,38, d. h. aber der Gehilfen; noch deutlicher bringt dies der paulinische Terminus Mitarbeiter Gottes, I. Cor. 3,9 u. ö., zum Ausdruck. Die Kritik an Gott ist gleichzeitig eine Krit i k a m Menschen. Sie betrifft ja den Schöpfer, dessen Werk in der Erschaffung des Menschen gipfele32). Jüdische Kreise, die die Schöpfung abwerten, nehmen am Geist der Zeit teil. Auch bewirken gnostische Ideen durch die Aufstellung von Mittlerwesen eine Entfernung der Gottheit von der Welt: er nimmt nicht mehr unmittelbar an ihr teil. Gottes Macht wird beschränkt durch die Hypostasierung seiner Eigenschaften. Der Anthropomorphismus, von einem Teil der Schriftgelehrten zu beheben oder zu mildern versucht, wird bei anderen umso stärker, und sie drücken darin ihren Hader mit Gott aus: er ist trotzig gegen die Bitten der Gemeinde, er verwechselt Namen und ist vergeßlich, ja er entzieht sich seinem eignen Gesetz oder den ethischen Verpflichtungen, die er selbst geboten hat. Aber wiederum, von der anderen Seite gesehen: Gott leidet mit seinem Volk, er ist ohnmächtig, demütig, weint und klagt, trauert um Stadt und Tempel, ist erlösungsbedürftig und ringt mit sich selbst um sein Erbarmen. Man könnte dies die positive Seite der rabbinischen Kritik an Gott nennen. Auf zwei große Motive läßt sich diese Kritik zurückführen : auf eine Fortführung des alttestamentlichen Dispute zwischen Gott und Menschen, wobei gleichzeitig eine Veränderung der biblischen Gottesvorstellung nach der spekulativen Seite hin erfolgt - und auf das Interesse a n der Entlastung der bedrängten Gemeinde. Es sind Motive, die in der Weiterentwicklung des Judentums unvermeidlich waren. Auch andere große Religionen haben unter dem Druck solcher Anfechtungen gestanden. Auch dem Islam und dem Christentum ist solche Kritik nicht fremd geblieben. Was den Islam betrifft, so ist Verfasser durch einen Vortrag von Hellmut Ritter im Orient-Institut Frankfurt/Main über "die Kritik an Gott bei den persischen Mystikem"33) zu vorliegender Untersuchung angeregt wor den. Wenn auch die Erscheinungswelt der islamischen, zumal der persischen Mystik von derjenigen der Rabbinen so verschieden ist wie nur möglich, da es sich dort meist um Extravaganzen des Typus des "närrischen Heiligen" handelt, der die Freiheit hat, auch die radikalsten Gedanken über die Gottheit zu äußern, ohne daß er sein praktisches Verhalten der Ergebung in Gott ändert, so haben doch b e i d e Welten das eine gemeinsam, daß es die Not ist, die hier ein entscheidendes Wort mitspricht. Im Christentum ist die Kritik an Gott lediglich verhüllter dank der Idee der Menschwerdung Gottes und der ins Dogma eingebauten Theorie vom Mittler; aber sie ist nichtsdestoweniger vorhanden und bricht in Zeiten der Krisis hervor. Schon die Theodizee, die positive Seite der Kritik an Gott, setzt voraus, daß der Mensch nicht um eine Recht-fertigung Gottes herumkommt; das aber hat wieder zur Voraussetzung, daß der Mensch Gott Vorwürfe macht. So tut es z. B. LUTHER, der "in seinen seelischen Kämpfen Gott besonders Härte und Ungerechtigkeit vorgeworfen hat"34). Diese Kritik ist zuletzt notwendige Begleiterscheinung jedes ernsthaften, sich um sich selber mühenden, nicht scholastisch erstickten Glaubens. Auch über die Kritik der Rabbinen an Gott kann schließlich kein anderes Urteil gefällt werden, als daß sie die dialektische Überwindung der Negation mittels ihrer ehrlichen Durchschreitung darstellt.

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