Werkbegriff und Interpretation: Zum Textverstehen unter den Bedingungen mittelalterlicher Schriftlichkeit
Abstract
Wenn wir unter Interpretation »das methodisch herbeigeführte Resultat des Verstehens von Texten in ihrer Ganzheit« (Spree, Interpretation, S. 168) begreifen, dann stellt sich solchem Interpretieren bei mittelalterlichen Texten, in bestimmten Punkten bei vormodernen Texten überhaupt, eine Reihe von Schwierigkeiten entgegen, die sich um das Definitionsmerkmal ›Ganzheit‹ gruppieren. Was bei mittelalterlicher Überlieferung der ›ganze Text‹ sei, lässt sich in der Praxis höchst selten, im Grundsatz sogar nie, eindeutig feststellen. Das liegt zum einen an den bekannten Umständen der Überlieferung, es liegt aber auch an einem anderen Kunstbegriff, der sich im Schlagwort ›Objektivität der Form‹ ausdrückt, besonders aber auch – darin zeigt sich die Ausweitung auf die Vormoderne insgesamt – in der immer wieder herausgestellten Prägung der Werke durch die Befolgung rhetorischer Anweisungen. Wenn z. B. die Gestalt eines Werkes in hohem Maße bestimmt ist durch die Aufgabe, an formal geeigneten Stellen Erweiterungen (dilatationes, insbesondere Ekphrasen etc.) vorzunehmen, dann stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis solche Zeugnisse handwerklicher Kunstfertigkeit zum Sinnentwurf des Textes stehen, ob sie ihn überhaupt berühren. Die ›Ganzheit‹ des Werkes zerfällt dann möglicherweise (so hat das schon E.R. Curtius gesehen) in eine Serie von ›rhetorischen Kunststücken‹. Es stellt sich also die Frage, wie unter diesen Voraussetzungen ›Interpretation‹ (s. o.) möglich ist.