Gute Gene sind alles? Der genetisch codierte Mensch im Transhumanismus

In Mariano Delgado & Klaus Vellguth (eds.), Der bessere Mensch. Religionswissenschaftliche, ethische und theologische Perspektiven. Ostfildern: Grünewald. pp. 165–192 (2024)
  Copy   BIBTEX

Abstract

Mit den Fortschritten in Generativer Künstlicher Intelligenz, Large Language Models, Brain-Computer Interfaces und genetischen Eingriffen gewinnt auch der Transhumanismus an Relevanz. Der Transhumanismus ist ein beliebtes Thema der Medien und wird in Tages- und Wochenzeitungen sowie im Fernsehen gerne aufgegriffen. Außerdem gibt es inzwischen viele Filme, die den Transhumanismus thematisieren, z. B. die Dokumentation „Endlich unendlich“ (2021, Regie: Stephan Bergmann). Der Transhumanismus wurde in Österreich auch Gegenstand einer Verschwörungserzählung, über die der Bayrische Rundfunk aufgeklärt hat. Auf den Wahlplakaten der „Partei für Gesundheitsforschung“ ist der Transhumanist Aubrey de Grey abgebildet, der ein in Cambridge lebender Brite ist, aber auf Plakaten in Deutschland dargestellt wird. Diese und weitere Entwicklungen machen es notwendig, sich mit dem Transhumanismus aus wissenschaftlicher Perspektive auseinanderzusetzen. Was ist der Transhumanismus? Alle sprechen von Transhumanismus, aber was der Transhumanismus letztlich ist, bleibt häufig unklar. Der Transhumanismus (TH) ist eine philosophisch-technologische Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts, die es sich zum Ziel setzt, mittels neuer Technologien den Menschen grundlegend zu transformieren. Wichtig ist dabei, dass sich der TH nicht mit den Optimierungsbestrebungen in der Gesellschaft oder technologischem Fortschritt gleichsetzen lässt. Vielmehr verstehe ich unter TH die Gruppe, die sich um die Organisation Humanity+ in Kalifornien versammelt und die Personen, die sich explizit alsVertreter*innen des TH verstehen. Der TH hat eine ganz eigene Agenda, eigene Institutionen, Organisationen und Publikationsorgane.4 Zu den Themen und Visionen gehören die Lebensverlängerung von mehreren Hundert Jahren bis zur Unsterblichkeit, Kryonik (das Einfrieren des Körpers, der wieder aufgetaut werden soll, wenn nach transhumanistischer Vorstellung Unsterblichkeit ermöglicht werden kann), umfassendes Enhancement und die Verschmelzung von Körper und Technik sowie Beseitigung allen Leids, aller Krankheiten und Aufhebung des Alterns. Der TH strebt danach, mittels Technik neue Sinnesfähigkeiten zu erlangen und neue (virtuelle) Erfahrungswelten zu erschließen. Außerdem wird von vielen Transhumanist*innen auch die hochspekulative Vision des Mind Uploading vertreten, die streng genommen dem Posthumanismus zugeordnet werden muss Gemäß dieser Vision soll durch das maschinelle Lesen des Gehirns der ganze Mensch auf ein externes Medium hochgeladen werden können. Die Vision des Mind Uploadings ist aus naturwissenschaftlicher Perspektive hochumstritten, ist aber ein sehr beliebtes Motiv, das auch außerhalb des TH Wirkung zeigt und in viele Science-Fiction- Filme Eingang gefunden hat (z.B. die Amazon Serie „Upload“, 2020, Regie: Greg Daniels). Das Bestreben des TH, den Menschen grundlegend zu transformieren, wirft zunächst die Frage auf, wie der TH den Menschen überhaupt versteht. Dieser Frage nach dem Menschenverständnis des TH habe ich mich in meinem Buch „Über-Menschen. Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus“ gewidmet. Philosophische Anthropologie bezeichnet die wissenschaftlichen, philosophischen Reflexionen auf den Menschen. Welches Menschenverständnis vertritt der TH und lässt sich unsere Anthropologie auf dieser Grundlage weiterentwickeln? Das Buch gliedert sich in drei Teile: Teil 1 führt zuerst in die Bewegung des TH ein, worauf Teil II aufbaut, der sich mit dem Menschenverständnis des TH beschäftigt. Teil III betrachtet schließlich heutige Optimierungsbestrebungen in der Gesellschaft sowie neue Ansätze für die Technikanthropologie (z. B. Kritischer Posthumanismus und Neuer Materialismus). Die nachfolgenden Kapitel dieses Aufsatzes sind ein Ausschnitt aus Teil II, der Untersuchung des transhumanistischen Menschenverständnisses. Dieser Aufsatz widmet sich dem „genetisch codierten Menschen“ im TH, also der transhumanistischen Sicht auf den Menschen als jemanden, die*der vollständig von ihren*seinen Genen bestimmt ist. Der genetische Diskurs ist nur einer von fünf im TH dominanten Diskursen, die das transhumanistische Menschenverständnis ausmachen. Zu den anderen Diskursen bzw. transhumanistischen Bestimmungen des Menschen gehören: der Diskurs um die „Natur des Menschen“, der Maschinendiskurs – die Bestimmung des Menschen als Maschine –, der neurowissenschaftliche Diskurs – die Gleichsetzung des Menschen mit dem Gehirn bzw. Neuronalem und zuletzt die metaphysischen Verhältnisbestimmungen von Geist und Körper (PUZIO, Über-Menschen, Kap. 4). Diese transhumanistischen Bestimmungen des Menschen werden am Ende ausgewertet. Ohne die Ergebnisse dieses Kapitels im Detail vorwegnehmen zu wollen, kann für die Gesamtuntersuchung des TH gesagt werden, dass das transhumanistische Menschenverständnis sich als hochproblematisch erweist. Die transhumanistischen Argumentationsstrukturen sind nicht tragfähig und der TH behauptet sich auf die Naturwissenschaften zu berufen, widerspricht allerdings den aktuellen Ergebnissen der Naturwissenschaften. Dies wird in den nachfolgenden Kapiteln gut deutlich werden. Der TH hat ein reduktionistisches Menschenverständnis und reduziert den Menschen beispielsweise auf „Information“. Viele Ausführungen sind diskriminierend z. B. gegenüber Kranken, Alternden und Menschen mit Behinderungen und letztendlich wird sogar jeder Mensch, auch der gesunde junge Mensch, gegenüber der Maschine abgewertet, die aus transhumanistischer Sicht den Menschen weit übertrifft. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden sogar „ideologische Elemente“ im TH identifiziert. Daher wird in der Arbeit abgelehnt, den TH als Grundlage für die Weiterentwicklung der Anthropologie zu verwenden und stattdessen werden im letzten Teil der Arbeit alternative Ansätze für die Technikanthropologie präsentiert. Wie bereits erwähnt, richtet sich die Kritik am TH jedoch nicht gegen die heutige Optimierung in der Gesellschaft, die ebenfalls im letzten Teil der Arbeit diskutiert wird. Optimierungsbestrebungen hat es schon immer gegeben und sie werden nun durch neue Technologien weiter verändert, sie sind aber nicht mit der Bewegung des TH gleichzusetzen. Das Kapitel ist eingebettet zwischen dem Maschinendiskurs (Mensch als Maschine) mit seinen Ausführungen zu Information und Kybernetik und dem neurowissenschaftlichen Diskurs („Der Mensch ist ihr*sein Gehirn“). Es wird im Folgenden der genetische Diskurs im TH untersucht, also wie der TH den Menschen vollständig auf Gene zurückführt, und dies schließlich kritisch geprüft. Sind „gute Gene“ alles? Kann der Mensch vollständig über ihre*seine Gene bestimmt werden? Und was hat es mit der trügerischen „genetischen Information“ auf sich? Zunächst wird der genetische Diskurs im TH dargestellt, also die genetischen Ausführungen des TH präsentiert (Kap. 2), danach wird der Blick auf den Gebrauch der genetischen Metaphern im TH gerichtet (Kap. 3) und zuletzt werden die genetischen Vorstellungen des TH kritisiert (Kap. 4). Der Aufsatz schließt in Kap. 5mit einer (vorläufigen) Zusammenführung der Ergebnisse und einem Ausblick.

Links

PhilArchive

External links

  • This entry has no external links. Add one.
Setup an account with your affiliations in order to access resources via your University's proxy server

Through your library

Similar books and articles

Body and the Limit of Human Enhancement.Jin-Woo Lee - 2018 - Proceedings of the XXIII World Congress of Philosophy 65:49-53.
The wisdom of caution: Genetic enhancement and future children.Jason Borenstein - 2009 - Science and Engineering Ethics 15 (4):517-530.
The Future of Education: Genetic Enhancement and Metahumanities.Stefan Lorenz Sorgner - 2015 - Journal of Evolution and Technology 25 (1):31-48.
Enhanced Bodies.Claudio Tamburrini & Torbjo€Rn Ta¨Nnsjo€ - 2011 - In Julian Savulescu, Ruud ter Meulen & Guy Kahane (eds.), Enhancing Human Capacities. Blackwell. pp. 274–290.
Egalitarianism and Responsibility in the Genetic Future.Linda Barclay - 2009 - Journal of Medicine and Philosophy 34 (2):119-134.

Analytics

Added to PP
2024-05-19

Downloads
0

6 months
0

Historical graph of downloads
How can I increase my downloads?

Author's Profile

Anna Puzio
University of Twente

Citations of this work

No citations found.

Add more citations

References found in this work

No references found.

Add more references