Liberalismus und die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit

Zeitschrift für Praktische Philosophie 9 (1):201-224 (2022)
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Abstract

Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob und wie der Liberalismus mit der situierten Epistemologie der Ungerechtigkeit umgehen kann. Diese Frage stellt sich im Zuge der liberalen Annäherung an Ungerechtigkeitskonzepte beispielsweise durch die nicht-ideale Theorie sowie die Rezeption Judith Shklars, und ist durch eine Diskrepanz liberaler Theoriebildung motiviert: einerseits steht das konstitutive normative Interesse des Liberalismus an Ungerechtigkeit; andererseits steht die weitgehend auf Abstraktion basierende Methodologie des Liberalismus, die spezifisches Wissen über Ungerechtigkeit verunmöglicht. Insbesondere in Fällen struktureller Ungerechtigkeit gilt die soziale Identität von Akteur:innen als relevantes Merkmal, von der aber qua partikularer Eigenschaft abstrahiert wird. Gegen diese Methodologie der Abstraktion spricht jedoch insbesondere die These der feministischen Standpunkttheorie, der zufolge Wissen sozial situiert sei und Mitglieder sozial marginalisierter Gruppen privilegierten Zugang zu Wissen über Ungerechtigkeit haben können. Dieses Wissen besitzt, so meine These, für den Liberalismus normative Relevanz. Ich werde in diesem Beitrag am Beispiel von Judith Shklars Liberalismus zeigen, dass die Integration situierten Wissens über Ungerechtigkeit in konfliktive Varianten liberaler Theorien konzeptuell möglich ist. Nach einer Übersicht über die soziale Variante feministischer Standpunkttheorie, die sich auf die Epistemologie der Ungerechtigkeit fokussiert, argumentiere ich für die grundsätzliche Vereinbarkeit des Liberalismus mit der These der sozialen Situiertheit von Wissen in normativer und methodologischer Hinsicht. Ich zeige erstens, dass der normative Individualismus, auf den jede liberale Theorie definitorisch festgelegt ist, auch der sozialen Standpunkttheorie zugrunde liegt, wie ich am Konzept epistemischer Ungerechtigkeit zeige. Zweitens differenziere ich in methodologischer Hinsicht zwischen idealer und nicht-idealer liberaler Theorie. Ich zeige, dass die ideale liberale Theorie bei Rawls das für strukturelle Ungerechtigkeit relevante Merkmal der sozialen Identität nicht konzeptualisieren kann, dass jedoch Tommie Shelbys nicht-ideale liberale Theorie eine der sozialen Standpunkttheorie analoge Argumentation verfolgt, da sie Erfahrungen in Abhängigkeit von sozialer Identität zum Ausgangpunkt der Frage nach sozialer Gerechtigkeit macht. Drittens argumentiere ich, dass Judith Shklars konfliktiver Liberalismus besonders geeignet ist, die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit zu integrieren, da sie die Schnittstelle der beiden Ansätze auf die Ebene der liberalen Gesellschaft verlagert. Auf dieser kann das situierte Wissen über Ungerechtigkeit, das Mitglieder marginalisierter sozialer Gruppen haben, als Expert:innenwissen verarbeitet werden und so soziale und politische Reformen anstoßen.

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