Bildung im Medium der Ästhetik. Die Aktualität von Schillers Theorie der ästhetischen Bildung im Zeitalter der Digitalisierung

In Markus Tiedemann (ed.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik Und Philosophische Bildung. J.B. Metzler. pp. 75-92 (2021)
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Abstract

Im Jahre 1791 hatte Schiller ein großzügiges Stipendium durch den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig–Holstein Augustenburg erhalten und seinem Dank in einer Reihe von Briefen „Über die Philosophie des Schönen“ an den Prinzen Ausdruck verliehen. 1794 gingen diese Briefe beim Brand des Schlosses Christiansborg in Kopenhagen verloren. Lediglich sechs Briefe blieben in Abschriften erhalten und bildeten zusammen mit den sog. Kalliasbriefen an Gottfried Körner die wichtigsten Grundlagen für die 27 von Schiller neu verfassten Briefe, die 1795 unter dem Titel Über die ästhetische Erziehung, in einer Reihe von Briefen in der von Schiller und Goethe gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift, den Horen, erschienen sind. In diesen Briefen entwickelt Schiller seinen ästhetischen Humanismus und seine daraus hervorgehende Erziehungs- und Bildungstheorie, die auf die „ästhetische Freiheit“ des Menschen hinausläuft, eine innere Freiheit, die dadurch zustande kommt, dass der Mensch von der Nötigung sowohl durch seine sinnlichen Begierden als auch durch die Vernunft soweit emanzipiert ist, dass sich dadurch ein Raum der freien Selbstbestimmung eröffnet. Mit seiner These, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, d. h. wo er sich ästhetisch verhält, hat sich Schiller einen festen Platz in der Geschichte und Systematik der Bildungstheorie des Neuhumanismus gesichert. : Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, S. 408.) Der vorliegende Beitrag, der zumindest in Ansätzen die Aktualität von Schillers Theorie ästhetischer Erziehung und Bildung herausarbeiten möchte, wird von der These geleitet, dass die Erinnerung an den neuhumanistischen Bildungsdiskurs im Allgemeinen und an Schillers Theorie ästhetischer Bildung im Besonderen die Verengung des momentanen Bildungsdiskurses aufzubrechen vermag. Zu diesem Ergebnis kommen unter anderen Jürgen Stolzenberg und Lars-Thade Ulrichs in ihrem Vorwort zu dem von ihnen 2010 herausgegebenen Band Bildung als Kunst. Im Blick auf die aktuelle Gegenwart, die sich bekanntlich als „Wissens- und Informationsgesellschaft“ versteht, ist nach dem Urteil der beiden benannten Autoren insofern eine Verlustrechnung aufzumachen, als die „bloße Akkumulation von Wissen und dessen möglichst rasche und erfolgsorientierte Anwendung“ wichtige Einsichten und Gewinne der Tradition der Bildungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts verspielt, die sich um einen „emphatischen Begriff“ der ästhetischen Bildung zentrieren.: Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. VI.) Dieser Begriff gehört nicht zu den Bildungsgütern, die auch und gerade im digitalen Zeitalter schadlos zu entsorgen sind, zumal Schillers Konzept einer ästhetischen Erziehung auf ein Bildungsproblem aufmerksam macht, dass sich, so die These dieses Beitrages, unter dem Dispositiv des Digitalen noch erheblich verschärft. Bereits in seinem Brief an den Augustenburger vom 9. Februar 1793 spricht Schiller von dem „kühnen Unternehmen“, sich auf der Basis Kantischer Grundsätze mit den Prinzipien der Kunst auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt für Schillers theoretische Untersuchungen ist also Kants Kritik der Urteilskraft, genauer die Analytik des Schönen, in der Kant sein kritisches Programm nach der Prüfung der theoretischen und der praktischen Vernunft auf die Untersuchung der ästhetischen Beurteilung ausgedehnt und eine Schiller überzeugende Theorie der ästhetischen Hauptphänomene des Schönen und des Erhabenen begründet hatte. Etwas konkreter im Hinblick auf das Bildungsthema formuliert Schiller sein Vorhaben im Augustenburger Brief vom 13. Juli 1793. Hier geht es um die Beantwortung der Frage, wie sich die Schönheit einerseits gegen „den menschlichen Geist überhaupt“ und andererseits „gegen die Zeit“ verhält. Damit sind die Momente benannt, um die es in Schillers ästhetischer Bildungstheorie geht: Erstens um die Bedeutung der Ästhetik für die Bildung des Menschen sowie zweitens um die Wirkung einer als autonom gedachten Kunst in der modernen, durch Fragmentarisierung und Entfremdung charakterisierten Gesellschaft. Das große Thema der Ästhetischen Briefe ist die von Schiller konstatierte integrative Leistung der Ästhetik: Im einzelnen Individuum wird durch die ästhetische Erziehung und Bildung der innere Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Neigung und Pflicht soweit aufgehoben, dass die ästhetisch gestiftete innere Freiheit den Weg zur moralischen Autonomie erleichtert. Von einer ästhetisch kultivierten Urteilskraft erwartet Schiller nicht nur eine Humanisierung gesellschaftlicher Umgangs- und Kommunikationsformen, sondern auch die Überwindung der Widersprüche einer mit sich selbst entfremdeten Moderne.

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