Dekoloniale Ethik und die Grenzen der Redefreiheit

Zeitschrift für Praktische Philosophie 9 (2):333-350 (2023)
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Abstract

Der argentinische Philosoph Enrique Dussel ist im deutschen Sprachraum kaum noch präsent. Seine dekoloniale Ethik der Befreiung (Dussel 2000) widmet sich den von marginalisierten Gruppen gemachten Erfahrungen materieller und diskursiver Ausgrenzung. Der Subjekttypus des ego clamo bezeichnet einen ethisch relevanten „Hilfeschrei“ der seit dem europäischen Kolonialismus benachteiligten Menschen des globalen Südens. Dussels Ethik wird innerhalb der dekolonialen Theoriebildung um das Konzept der Kolonialität der Macht (span. colonialidad del poder) verortet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und auf aktuelle Fragestellungen der Toleranz, Pluralität und Meinungsfreiheit bezogen. Wie Aníbal Quijano und Walter Mignolo geht auch Enrique Dussel von der Persistenz spezifischer Machtstrukturen aus, die sich während des europäischen Kolonialismus etabliert haben. Nach Quijano impliziert Kolonialität der Macht soziale Klassifizierungen durch Kategorien wie Rasse (span. raza) und Geschlecht, die aus einer eurozentrischen Perspektive formuliert (Kolonialität des Wissens) und im kolonialen Zeitalter global handlungsleitend wurden (Kolonialität des Wissens). Dekolonialität soll derartige „Muster der Macht“ (span. patrón de poder) historisch aufweisen und mit verschiedenen epistemischen Strategien zu dekonstruieren. Dussels Ethik der Befreiung ist dabei auf die Dekolonialisierung von Subjektivität gerichtet. Sie fordert auf zur Übernahme der Perspektive materiell und diskursiv Benachteiligter. Die leibhaftige Präsenz vielfach ausgeschlossener Menschen begründet eine Pflicht zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie weist auf den blinden Fleck abstrakter, vom fiktiven Standpunkt der Allgemeinheit formulierter liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen hin: Sie blenden identitätsbasierte Formen der Exklusion methodisch aus. Individuelle, aber nicht zugleich kontingent gemachte Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts können von der Mehrheitskultur einer Gesellschaft oft nicht ausreichend nachvollzogen werden. Mit Dussel lässt sich begründen, dass wir dennoch verpflichtet sind, uns mit den teilweise unbekannten und manchmal auch unbequemen Perspektiven der Anderen auseinanderzusetzten. Ein solcher Prozess der Konfrontation muss dabei jedoch jederzeit frei von Hass und Gewalt bleiben. Das Recht auf Freiheit des Ausdrucks wird überstrapaziert, wenn es die Fortsetzung diskriminierender Reden und ausgrenzender gesellschaftlicher Praktiken bedeutet. Ihm stehen manifeste Unrechtserfahrungen von Minderheiten entgegen, die deren Würde verletzen.

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