Abstract
Biopolitik als auf das Leben gerichtete Form des Regierens moderner Gesellschaften weist zwei Facetten von Temporalität auf. Zum einen stellt sich Biopolitik als historisches Phänomen dar, zum anderen ist der Biopolitik eine eigene Zeitstruktur inhärent. Um diese temporalen Merkmale theoretisch zu spezifizieren, bedienen wir uns der Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Unsere Überlegungen illustrieren wir am Interaktionssystem der prädiktiven genetischen Diagnostik, die mit der Entstehung der Subjektform der ‚ symptomfreien Kranken‘ verbunden ist. Dabei wird deutlich, dass die Biopolitik durch den Einsatz der Risikosemantik eine auf die Zukunft gerichtete Perspektive einnimmt und ehemals nicht beeinflussbare Gefahren in den Horizont der individuellen Verantwortung rückt. Zugleich bringt das Interaktionssystem eine eigene Zeitstruktur hervor, indem es Informationen aus der Vergangenheit selektiert und hierdurch kontingente, entscheidungsabhängige Zukünfte imaginiert. Neben der Entzifferung der Temporalität der Biopolitik erlaubt die Systemtheorie schließlich eine metatheoretische Einordnung: Dass sich eine biopolitisch regierte Gesellschaft mitsamt der Norm der Optimierung des Lebens etablieren konnte, ist hiernach kein historisch zufälliges Produkt, sondern vielmehr Ausdruck der inhärent modernen Unterscheidung zwischen Vergangenem und Zukünftigem.