Psyche 77 (6):496-528 (
2023)
Copy
BIBTEX
Abstract
Was ist gemeint, wenn von »Bions Spätwerk« die Rede ist? Jedenfalls nicht seine autobiographischen und erst recht nicht seine literarischen Schriften. Mit Kunst – insbesondere Literatur – setzte sich der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion zeit seines Lebens auseinander. In der Entwicklung seines Werks ist eine sukzessive Annäherung an und ein Rückgriff auf Kunst als eigenständigen Modus der Erkenntnis zu beobachten. Dieser Prozess mündet in einen »aesthetic« oder »literary turn«. Mit ihm wird bewusst die Erwartung aufgegeben, dass sich Gegenstände und Phänomene des psychoanalytischen Interesses durch die auf »klassischer Logik« basierende wissenschaftliche Methode adäquat erfassen oder überhaupt in den Blick nehmen lassen. Während der letzten Jahre seines Lebens verfasste Bion »A Memoir of the Future«, eine aus drei Romanen bestehende Science-Fiction-Trilogie (Publikation 1975–1979), die er als »fiktiven Bericht über eine Psychoanalyse im Rahmen eines künstlich konstruierten Traums« bezeichnet hat. Bions Romantrilogie, die von Anfang an ablehnend aufgenommen wurde und bis heute weitgehend ignoriert wird, betrachtet der Autor als konsequente Fortsetzung von Bions Gesamtwerk mit anderen Mitteln. Er zeigt, wie sie den Überstieg in eine neue Dimension von Selbstreflexion als Wissenschaft und Wissenschaft als Selbstreflexion vollzieht, wie sie bereits das Gründungsdokument der Psychoanalyse, Freuds »Traumdeutung«, unternommen habe, nur mit radikalerer Konsequenz.