Abstract
Mit wenigen Ausnahmen war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in keiner Verfassung der Welt von der Würde des Menschen die Rede. Erst in der Charta der Vereinten Nationen von 1945, also vier Jahre vor der Verabschiedung des Grundgesetzes, wird als Gründungszweck der UN das Bestreben angeführt: “to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person”. In der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 ist dann schon wiederholt von der Würde die Rede, so etwa gleich zu Anfang in der Präambel und im ersten Satz von Art.1. Ein Jahr später wird das Grundgesetz verabschiedet, und seitdem findet sich in nahezu allen neu verabschiedeten Verfassungen und Deklarationen bis hin zum Vertrag von Lissabon an zentraler Stelle ein Hinweis auf die Würde des Menschen.
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht entsteht somit das Problem, dass es einerseits die Prominenz des Menschenwürdebegriffs unvermeidlich macht, ihn juristisch sorgfältig aufzuklären und zu erläutern, dass dies aber mangels einer juristischen Tradition seiner Verwendung extrem schwer fällt. Gerade die deutsche Rechtswissenschaft ringt deshalb bis heute um ein akzeptables Menschenwürdeverständnis.
In der Philosophie gibt es hingegen kein Grundgesetz und keine Allgemeine Menschenrechtserklärung, deshalb ist es nicht so unmittelbar einsichtig, weshalb die Philosophie Probleme mit dem Begriff der Menschenwürde haben sollte. Und tatsächlich war die Menschenwürde für die Philosophinnen und Philosophen der Nachkriegszeit lange Zeit kein dringendes Thema. Das änderte sich in Deutschland erst in den neunziger Jahren mit dem zunehmenden Interesse an der Bioethik, die zu einer verstärkten Annäherung zwischen der Moralphilosophie, den Rechtswissenschaften, der Theologie und der Medizin führte. Der entscheidende Umschwung ereignete sich allerdings erst kurz nach der Jahrtausendwende, als eine Reihe prominenter Philosophen in der Zeit eine Debatte darüber austrugen, ob Embryonen eine Menschenwürde haben oder nicht. Spätestens seitdem ist die Frage, worin die Würde des Menschen besteht, eine der zentralen Fragen der angewandten Ethik in Deutschland.
Zunächst scheint die Philosophie gegenüber den Rechtswissenschaften den großen Vorteil zu haben, dass es durchaus eine Tradition philosophischer Auseinandersetzungen mit der Würde des Menschen gibt, wenn auch keine besonders umfangreiche. Wie sich allerdings beim näheren Hinsehen zeigt, kann der Blick in die Tradition eher dazu dienen, die Probleme deutlich zu machen, die uns der Begriff der Menschenwürde bereitet, als dass sich uns unmittelbar eine Lösung aufdrängen würde.