Das Beste aus zwei Welten? Ludwik Fleck über den sozialen Ursprung wissenschaftlicher Kreativität

In Philipp Hubmann & Till Julian Huss (eds.), Simultaneität - Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Bielefeld: transcript. pp. 111-131 (2013)
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Abstract

In der heutigen schnelllebigen Welt erscheint uns der Begriff der Simultanität – der Gleichzeitigkeit – häufig eher negativ konnotiert. Er steht für das Gefühl der Überforderung im Berufs- und Alltagsleben, in welchen wir immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen, immer mehr Informationen verarbeiten, immer mehr Aufmerksamkeiten delegieren, immer mehr Aktivitäten koordinieren und in dem doch nicht länger werdenden Tagesablauf unterbringen sollen. Simultanität – in diesem umgangssprachlichen, schwachen Sinne von Gleichzeitigkeit verstanden – muss aber nicht zwangsläufig einen solch negativen Anklang aufweisen. Gerade für den Bereich der Wissenschaften stellt sie nicht nur eine Herausforderung dar, sondern vor allem auch eine Chance. Auf diesen Aspekt der Simultanität macht der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam. Fleck, als Forscher selbst in mehreren Welten zu Hause – seine wissenschaftstheoretischen Schriften reflektieren unter anderem seine primäre Arbeit als Mikrobiologe und Mediziner –, zeigt auf, wie in der Wissenschaft als sozialem Gefüge der einzelne Forscher zur Schnittstelle ganz unterschiedlicher Ideenreservoire wird. Hier ist es nun genau der Aspekt der Simultanität, im Sinne der simultanen Zugehörigkeit des Einzelnen zu ganz verschiedenen „Denkkollektiven“, wie Fleck es nennt, welcher der Kreativität des Wissenschaftlers zugutekommt. Konzepte aus auf den ersten Blick eventuell ganz verschiedenen Bereichen werden von ihm genutzt, um Entdeckungen und Probleme in seinem eigenen Arbeitsgebiet zu beschreiben und zu veranschaulichen und so sein eigenes Feld der Forschung entscheidend voranzubringen. Der Aspekt der Simultanität wird in diesem Kontext dadurch ins Positive gewendet. In Flecks Theorie der sozialen Determiniertheit wissenschaftlicher Forschung findet sich eine ausgefeilte Darstellung dessen, was es bedeutet, dass Wissenschaft üblicherweise eben nicht ‚im stillen Kämmerlein‘ erfolgt. Anders als Thomas S. Kuhn, als dessen Vorläufer Fleck gemeinhin angesehen wird, erläutert er detailliert, wie man sich zum einen die simultane Teilnahme an ganz verschiedenen Denkkollektiven vorzustellen hat und, zum anderen, welche Konsequenzen sich aus der Überschneidung der verschiedenen „Denkstile“ der unterschiedlichen Kollektive im Individuum ergeben. Im Rahmen des Beitrags werden die relevanten Aspekte von Flecks Theorie erläutert und kritisch im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit für eine Anwendung auf die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft untersucht.

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