Abstract
Während der größte Teil der Bevölkerung die kieferorthopädische Therapie, also die Veränderung der Zahn- bzw. Kieferstellung, als eine Behandlung betrachtet, die vor allem auf eine Verbesserung des Erscheinungsbildes zielt, sehen der kieferorthopädische und zahnärztliche Berufsstand sowie auch private und öffentliche Kostenträger in bestimmten Abweichungen von Zahn- oder Kieferstellungen eine Gefährdung der oralen Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gebisses. Letztere Auffassung bestimmt das ärztliche Handeln in der Kieferorthopädie und begründet auch die Übernahme zumindest bestimmter Leistungen durch die gesetzlichen Krankenkassen. Anhand aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich jedoch in vielen Fällen keine (akuten oder potentiellen) gesundheitlichen oder essentiellen funktionellen Beeinträchtigungen und Risiken abweichender Zahnstellungen nachweisen. Ziel dieses Aufsatzes ist es, diesem Widerspruch nachzugehen. Im Folgenden werden wir aufzeigen, welche Faktoren die Anbieter kieferorthopädischer Leistungen beeinflussen, welches die entscheidenden Gründe und Grundlagen für die Behandlung sind und an welchen Kriterien sich die Leistungsübernahme durch die Krankenkassen orientiert. Dabei wird deutlich werden, dass die formalen Kriterien von Behandlung und Kostenübernahme, die tatsächliche Behandlungs- und Kostenerstattungspraxis, die Erwartungen derjenigen, die Behandlungsleistungen in Anspruch nehmen und der aktuelle Stand der Forschung zu erwartbaren Funktionsbeeinträchtigungen durch Zahnstellungsvariationen nicht zwanglos zu vereinbaren sind. Erforderlich erscheint ein interdisziplinärer normativer Diskurs über die Frage, wie die diagnostizierten Spannungen aufzulösen wären. Als Anregung für einen solchen Diskurs werden wir im Ausblick alternative Lösungsstrategien vorstellen.