Abstract
Die Quellen zur politische Philosophie der frühen Stoa sind ungewöhnlich heterogen: auf der einen Seite stehen die Aussagen zu Gesetz, Vernunft und kosmischem Staat, auf der anderen die berüchtigten Thesen zu Inzest, dem Verzehr von Menschenfleisch etc. Letztere sind v.a. in skeptischen Texten überliefert und spielen eine bislang in der Literatur nicht beachtete, wesentliche Rolle für die skeptische Philosophie: Sextus Empiricus lässt die Thesen, zusammengestellt in Listen, als Beschreibung einer Lebenskunst erscheinen. Offenbar handelt jedoch niemand, auch nicht die Stoiker, im Sinne dieser Thesen. Unter Verwendung der dogmatischen Annahme, jede Kunst habe ihr eigenes Werk, kann Sextus die Urteilsenthaltung in der Frage, ob es eine Lebenskunst gebe, herstellen – der Kunst fehlt das ‘Werk’. Für die Interpretation entsteht die Frage, ob die ‘anstößigen’ Thesen letztlich deshalb einen so großen Raum in den Quellen einnehmen, weil sie es den Skeptikern erlauben, mit diesem oder ähnlichen Argumenten in einem für sie zentralen Punkt – der Frage nach der Existenz einer Lebenskunst – die Urteilsenthaltung herzustellen, nicht, weil sie im Zentrum der frühen stoischen Theorien stünden