Nachgelassene Schriften 1810–1812 [Book Review]

Fichte-Studien 19:233-235 (2002)
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Abstract

Unlängst ist Band II,12 der von Reinhard Lauth, Erich Fuchs, Peter K. Schneider und Ives Radrizzani unter Mitwirkung von Hans Georg von Manz edierten kritischen Ausgabe des Werks von Johann Gottlieb Fichte in der Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erschienen. Erscheinungsjahr ist 1999, Erscheinungsort wie zuvor Stuttgart-Bad Cannstatt bei Frommann-Holzboog. Der Band enthält Fichtes philosophische Leistung aus dem Jahr 1811. Primär zu nennen sind »Die Thatsachen des Bewussstseyns«, welche Fichte als Einleitung in die Wissenschaftslehre im Wintersemester 1810/11 gelesen hat, die Wissenschaftslehre von 1811, welche Fichte vom 30. Januar bis 6. April vorgetragen hatte, sowie die populären »Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten«, von denen anzunehmen ist, Fichte habe sie im Frühjahr 1811 gelesen. Fichte hat »Ueber die Bestimmung des Gelehrten« im Verlauf seiner Lehrtätigkeit dreimal im Rahmen seiner Vorlesungszyklen vorgetragen: ein erstes Mal zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Jena 1794/95. Hiervon sind fünf Vorlesungen in GA I,3 von 1966 wiedergegeben, eine weitere Gruppe um das Thema »Ueber den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie« findet sich in GA II,3. Ein zweites Mal las Fichte »Ueber die Bestimmung des Gelehrten, und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit« vom 25. Mai bis wohl Ende August 1805 in Erlangen. Dieser Zyklus umfaßt zehn Vorlesungen und findet sich in Band I,8 der Akademie-Ausgabe. Ein drittes Mal las Fichte »Ueber die Bestimmung des Gelehrten« wohl im Frühjahr/sommer 1811. Die genauen Daten sind nicht bekannt. Reinhard Lauth verweist im Vorwort zum Text auf ein längeres Schreiben des Studenten August Twesten, vom 28. Mai 1811, worin dieser berichtet, er höre bei Fichte »Reden über das Wesen des Gelehrten«, sowie auf die »Miszellen für die Neueste Weltkunde« vom 25. Mai 1811, wo es heißt: »Unsere Universität hat mit diesem Semester bedeutenden Zuwachs erhalten: man zählt jetzt beinahe vierhundert Studenten, grösstentheils Mediziner. Hufeland lieset über seine Makrobiotik, und Fichte über die Bestimmung des Gelehrten«. Beispiel für künstlerische Tätigkeiten pflegen für Fichte die der Dichter, der Maler, der Bildhauer zu sein, in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten ist es ebenfalls die der Bildhauer. In den Vorlesungen von 1811 hingegen ist es der Musiker, welcher mit dem Denkkünstler verglichen wird: »so jemand in der Musik es zur Meisterschaft bringen will, so bedarf er dazu zu allererst der innern Erregbarkeit durch die Form des Uebersinnlichen, wodurch seine Kunst erst zur Kunst wird«. Nun verweist Reinhard Lauth darauf, daß Fichte vom 4. bis 30. August 1811 in Teplitz zur Badekur weilte, wo vom 4. August bis zum 18. September auch Ludwig van Beethoven sich aufhielt und möglicherweise Fichte musikalisch beeindruckte. Daß es zu einer persönlichen Begegnung gekommen sei, läßt sich jedoch dokumentarisch nicht nachweisen. Als Einführung in die Wissenschaftslehre las Fichte im Wintersemester 1810/11 »Ueber das Studium der Philosophie« und »Ueber die Thatsachen des Bewusstseyns«. Wie Reinhard Lauth rekonstruiert hat, hatte Fichte vom 22. bis 26. Oktober 1810 »Ueber das Studium der Philosophie« gelesen. Der Vorlesungstext ist nicht erhalten. Vom 29. Oktober 1810 bis 14. Januar 1811 trug Fichte erstmals »Ueber die Thatsachen des Bewusstseyns« vor. Diese Vorlesung übernahm, wie Reinhard Lauth im Vorwort erläutert, in der Spätphase Fichtes zusammen mit den Ausführungen über »Transzendentale Logik« die Rolle der Jenaer und Erlanger Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Sie sollte auf die genetische Darstellung der Phänomene des Bewußtseins in der WL vorbereiten. Durch Fichte von Beginn an zum Druck bestimmt, erschien die Vorlesungsreihe erstmals nach seinem Tod 1817 in der Cottaischen Buchhandlung. 1845 veröffentlichte auch Immanuel Hermann Fichte in Band 2, S. 534–691 der von ihm herausgegebenen »sämmtlichen Werke« die »Thatsachen« von 1810/11 ein zweites Mal, allerdings nicht ohne unausgewiesene Veränderung ihrer Gliederung, da, wie er ausführte: »das Manuscript, wiewohl ursprünglich für den Druck bestimmt, dennoch die letzte Hand und Feile vom Verfasser nicht erhalten hatte«. Band II,12 der Akademie-Ausgabe enthält nun auch erstmals eine gedruckte Veröffentlichung der WL 1811. Immanuel Hermann Fichte hatte sie in seiner Ausgabe von des Vaters Werken nicht berücksichtigt, ja, nicht einmal erwähnt. Die von fünfundsiebzig Hörern besuchte Vorlesung hatte am 30. Januar begonnen und wurde nach 25 Vorlesungsstunden am 6. April 1811 abgeschlossen. Da sie sorgfältiger ausgeschrieben ist als die späteren und nicht zuletzt als die von 1810, vermutet Reinhard Lauth - gestützt auch auf das Zeugnis von Fichtes Hörer August Twesten –, daß Fichte an eine Veröffentlichung gedacht habe. Twesten, selbst kein schlechter Kopf, hatte 1810 bis 1812 in Berlin studiert. Die These einer geplanten Veröffentlichung wird unterstützt durch das Faktum, daß Fichte schon zum Abschluß seines Vortrags der Wissenschaftslehre 1810 für seine Hörer »Die Wissenschaftslehre in ihrem Umriss« publiziert hatte und daß auch die »Thatsachen des Bewusstseyns« von 1810/11 zum Druck bestimmt waren. Auch ist die WL 1811 sehr viel ausgefeilter und sorgsamer ausgearbeitet als die vorangehende WL 1810, die ein bloßes Vorlesungsskelett darstellt, teilweise aus bloßen Stichworten bestehend. Es gibt somit berechtigten Anlaß zu vermuten, daß Fichte wieder an eine breitere Öffentlichkeit dringen wollte. Zum Inhalt der Wissenschaftslehre von 1811 wäre zu sagen, daß sie von drei Grundthemen dominiert wird: von dem der »Freiheit«, dem der »Fünffachheit« möglicher Standpunkte und dem des »Schemas«. Obgleich „Freiheit“ schon gedankliches Zentrum des frühen Fichte ist, so kommt es doch in seinen ersten Veröffentlichungen so wenig zum Ausdruck, daß Fichte sich in seinem Brief an Reinhold vom 8. Januar 1800 aus einer Position der Defensive zu betonen veranlaßt sieht: »Mein System ist vom Anfange bis zum Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit«. Schon in der WL 1801/02 spielt dieser Begriff dann eine bedeutende Rolle. In der WL 1811 hingegen wird der Begriff der Freiheit zentral und zwar im Zusammenhang mit einem zweiten: dem Begriff des „Reflexes“. Es gilt: Die absolute Sichvollziehung der Freiheit bringt das Faktum des Wissens zum Vorschein. Das Wissen führt - - seinen Reflex bei sich: es ist ein sich als Denken verstehenden Denken. Erst so entsteht Bewußtsein. Denn Denken ohne Sich-Sehen wäre ein Wissen ohne Licht, ein Bewußtsein ohne Gehalt. Von „Reflex“ war auch schon in der WL 1801/02 im Zusammenhang mit der »intellektuellen Anschauung« die Rede: »Der Sprung durch das absolute, der Reflex, das für ich seyn desselben, ist in der Mitte«. Dagegen wird die »intellektuelle Anschauung« - noch zentral in der WL 1810 - in der WL 1811 überhaupt nicht mehr genannt. Sie wird verdrängt durch den „Reflex“. In der Wissenschaftslehre 1811 findet also eine gewissen »Intellektualisierung« statt: Es gibt nicht mehr einerseits Anschauung, andererseits Denken, wie in den frühen Fassungen der Wissenschaftslehre, sondern es ist der Verstand, der »Bilder« entwirft.

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