Abstract
Im allgemeinen wird mystisches Denken als Synonym einer toleranten, auf Überwindung religiöser und kultureller Differenzen angelegten Geisteshaltung angesehen. Diese Auffassung hat gerade in der heutigen Zeit eine besondere Aktualität gewonnen, insofern sich die Gesellschaft einerseits mit dem Problem religiös motivierter Intoleranz konfrontiert sieht, andererseits aber einen universalen Geltungsanspruch des europäisch geprägten Rationalitätsideals oft nicht mehr zu vertreten wagt. Der vorliegende Artikel versucht, diese Meinung kritisch zu beleuchten und am Beispiel der Rezeptionsgeschichte der deutschen Mystiktradition im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts zu widerlegen. Die diversen Formen einer Inanspruchnahme der Mystik zum Zwecke einer zunächst konfessionell-kulturellen und später nationalistisch-rassistischen Identitätsstiftung lassen dabei erkennbar werden, daß die Mystik als solche keinesfalls schon eine universalistische, offene Geisteshaltung verbürgt und sich selbst nicht dagegen wehren kann, zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert zu werden. Dies erlaubt den Schluß, daß das in der Mystik liegende Universalitäts- und Toleranzpotential sich nicht primär vom Boden der Mystik aus, sondern erst durch die vom Ideal transzendentaler Vernunft geleitete Reflexion erschließt