Abstract
ZusammenfassungIn massenmedialen Darstellungen wird das Hormon Oxytocin gegenwärtig als biochemische Basis von Sozialität und wirkmächtiger neuropharmakologischer Lösungsansatz für die (Wieder‑)Herstellung der gesellschaftlichen Kohäsion verhandelt. Mit Blick auf die ursprüngliche Bedeutung des Hormons als „Körperhormon“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts soll im vorliegenden Artikel die außergewöhnliche Karriere von Oxytocin vom Regulator des Geburtsvorgangs hin zum Regulator der Gesellschaft nachgezeichnet werden. Woraus bezieht eine solch voraussetzungsvolle Behauptung ihre Intelligibilität und Akzeptabilität? Unsere Analyse des wissenschaftlichen Diskurses um Oxytocin (1906–1990), des massenmedialen Diskurses seit den 1990er Jahren sowie dessen Rückwirkungen auf den wissenschaftlichen Diskurs im gleichen Zeitraum verweist auf eine Serie von Re-Konfigurationen von wissenschaftlichen Theorien und Praktiken, sowie der Konzeption der Substanz an sich. Nachdem es sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert, wird Oxytocin bereits in den 1950er Jahren zum Neurohormon, findet in den folgenden Jahrzehnten jedoch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Erst im Zuge des massenmedialen Interesses für die postulierten Wirkungen des Hormons in Zusammenhang mit Liebe und Bindung gerät die Substanz zunehmend in den Fokus empirischer Forschung. Die Rezeption von Oxytocin als neurohormonelle Basis der individuellen Soziabilität speist sich zum einen aus dem massenmedialen Diskurs, zum anderen aus bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemachten biopolitischen Verknüpfungen, die auf die Regulierung des Lebendigen abzielen, sowie aus einem technowissenschaftlichen Modus der Oxytocinforschung: an ihrem Schnittpunkt avanciert Oxytocin zum Sozialhormon, so unsere These.