Abstract
In seiner Kritik der praktischen Vernunft hat Kant bekanntlich als das höchste Prinzip der Sittlichkeit den kategorischen Imperativ aufgezeigt. Dementsprechend hat er die Pflicht um der Pflicht willen zum Prinzip der Ethik erhoben und die Liebe, insofern sie sinnlich ist, völlig abgelehnt. Er hat folglich, wenn er die Liebe in der Bibel zu deuten versuchte, die Liebe zu Gott und zum Nächsten durch die Pflicht ersetzt und gesagt: »Gott lieben heißt in dieser Bedeutung: seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben heißt: alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben«. Es ist bemerkenswert, daß Kant seinen Blick niemals auf die Liebe Gottes, die in der christlichen Tradition hoch geschätzt ist, gerichtet hat. Fichte, der am Anfang seines Philosophierens an der Philosophie Kants orientiert das Ich zum höchsten Prinzip seiner Philosophie erhob, hat in der Religionslehre von 1798 die Pflicht zum Kernpunkt der Sittlichkeit gemacht und im Zusammenhang damit ›die lebendige moralische Ordnung‹ als Gott angesehen. Dementsprechend hat er die sinnliche Liebe abgelehnt und die Liebe Gottes gar nicht thematisiert. Aber in der Religionslehre von 1806 ist umgekehrt die Liebe Gottes Grundlage der Religion, auf der nicht nur Sittlichkeit, sondern auch alle Realität und alle Wissenschaft gegründet ist.