Abstract
In der Auseinandersetzung mit der Semantik Alteuropas hat Niklas Luhmann darauf verwiesen, dass der Begriff der menschlichen Lebensform in der antiken Semantik jenen Platz besetzt hält, an dem eigentlich ein Gesellschaftsbegriff zu entwickeln wäre (I). Der Beitrag geht der Frage nach, ob der zeitgenössische Begriff der menschlichen Lebensform, der eine tragende Bedeutung in der post-wittgensteinianischen Philosophie besitzt, dadurch erhellt werden kann, dass man ihn als funktionales Äquivalent des Gesellschaftsbegriffs versteht. Anhand von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen wird nachgezeichnet, dass der Begriff sich in der Tat als ein begriffliches Angebot für die Frage nach der »Realität des Sozialen schlechthin« auffassen lässt (II, III). Die heutigen Verwendungen des Begriffs weisen dabei allerdings noch immer jene Gefahren auf, die Luhmanns Vorbehalte gegenüber der antiken Semantik begründeten: die Gefahr, die unerreichbare Einheit des Sozialen zu reifizieren und die in einem solchen Begriff zu entfaltenden Probleme vorschnell zu verdecken (IV). Diesen Gefahren steht zugleich ein spezifisches Problematisierungspotential gegenüber, das den Begriff der Lebensform gegenüber dem Gesellschaftsbegriff auszeichnet. Dieser Begriff erlaubt die besondere Akzentuierung eines zentralen Problems des Sozialen: des Problems der Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft, das immer schon gelöst ist, wenn soziale Operationen geschehen, und das zugleich darin als unlösbares insistiert (V).