Abstract
ZusammenfassungSystemmedizinische Ansätze zeichnen sich durch die Integration großer Datenmengen aus vielfältigen Datenquellen aus und führen systembiologische und medizinische Forschungsansätze mit informationswissenschaftlichen Methoden und prädiktiven Verfahren mathematischer Modellierung zusammen. Hieraus resultiert eine enge Kooperation von Ärzten und Naturwissenschaftlern, wobei insbesondere die Expertise nicht-ärztlicher Forscher zunehmend an Bedeutung für die Datenaufbereitung und -interpretation gewinnt. Aus ethischer Perspektive wirft diese Entwicklung Fragen nach der konkreten Gestaltung einer systemmedizinischen Zusammenarbeit sowie möglichen Rollenveränderungen und neuen Verantwortungszuschreibungen an Ärzte und nicht-ärztliche Forscher auf. Um diese Fragen mit Blick auf die Erfahrungen und Perspektiven der beteiligten Akteursgruppen zu beleuchten, führten wir eine qualitative Interviewstudie mit Ärzten und nicht-ärztlichen Forschern aus unterschiedlichen systemmedizinischen Kontexten durch. Aus dem Interviewmaterial ließen sich zwei Konzeptionen von Systemmedizin rekonstruieren. Die erste ist durch eine eindeutige arbeitsteilige Rollentrennung zwischen Ärzten und Forschern charakterisiert: Der Forscher fungiert als Dienstleister, der Arzt als translationaler, interdisziplinär ausgerichteter Mediziner. Die zweite zeichnet sich durch eine weitreichende Aufhebung der Rollentrennung von Ärzten und Forschern aus: Die Berufsgruppen agieren als interdisziplinäres Team mit einer engen wechselseitigen inhaltlichen und methodischen Zusammenarbeit der Akteure. In beiden Konzeptionen werden Rollenkonflikte von Ärzten und Forschern deutlich, die insbesondere auf die Diskrepanz zwischen dem Arzt- und Forscherethos und die mit ihnen je verknüpften spezifischen Handlungsnormen und Ziele zurückzuführen sind. Ferner besteht mit Blick auf die dem Arzt und Forscher jeweils zukommende Verantwortung gegenüber Patienten vielfältiger normativer Klärungsbedarf, insbesondere hinsichtlich der Frage, welche Verantwortung den Akteursgruppen gerechtfertigter Weise zugeschrieben werden kann. Diesbezüglich erscheint eine Differenzierung von versorgungsnäheren und grundlagenforschungsorientierten Arbeitsfeldern angeraten.