Abstract
Im Gegensatz zur naturrechtlichen und moraltheologischen Tradition löst Kant in der „Rechtslehre“ die Ehe von Zeugungsintention und -fähigkeit, insofern das Recht Zwecksetzung wie interne Beschaffenheit von Akteuren ausblendet. In §7 der „Tugendlehre“ wirft Kant jedoch die ‚kasuistische‘ Frage auf, ob der eheliche Geschlechtsverkehr vom Standpunkt der Ethik an den Fortpflanzungszweck gebunden ist oder auch dann erlaubt sei, wenn eine Zeugung, etwa während einer Schwangerschaft oder aufgrund von Sterilität, nicht möglich ist. Dabei scheint es, als würde Kant hier ein besonderes Erlaubnisgesetz annehmen, das den „unzweckmäßigen“ Geschlechtsverkehr zulassen, um andere, schwerwiegendere Laster zu verhindern. Wie eine genaue Analyse von TL § 7 zeigt, referiert Kant hier nur eine im 18. Jh. verbreitete Argumentation, die paulinischen Überlegungen des ersten Korintherbriefs verpflichtet ist. Kant selbst lehnt diese Position jedoch ab und sieht den fortpflanzungsuntauglichen Geschlechtsgebrauch als ethisch unzulässig an. Die progressive Ablösung der Ehe von der Arterhaltung, die Kant in der „Rechtslehre“ vornimmt, hat kein Pendant in der „Tugendlehre“.