ZusammenfassungDie Geschichte der genetischen Pränataldiagnostik ist bislang als Teil der Geschichte der Humangenetik und deren Neuorientierung als klinisch-laborwissenschaftliche Disziplin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet worden. Anhand neuen Quellenmaterials soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass das Interesse an der Pränataldiagnostik in Westdeutschland auch im Kontext von Forschungen entstand, die sich mit Gefahren für den Menschen in der Umwelt befassten. Anhand der Debatten um die Einrichtung des DFG-Schwerpunktprogramms „Pränatale Diagnostik genetischer Defekte“ 1970 untersuchen wir, wie die Technik der (...) Amniozentese in Westdeutschland von einer interdisziplinären Forschungsgruppe eingeführt wurde, die sich mit Schädigungen des Organismus durch Strahlen, Arzneimittel und andere Gebrauchsstoffe und Konsumgüter befasste. In einer als ökologische Wende bezeichneten Zeit wachsenden Umweltbewusstseins, so unsere These, sollte durch die Förderung der Pränataldiagnostik eine wahrgenommene Lücke in der Prävention umweltbedingt auftretender genetischer Anomalien geschlossen werden. Für die Pränataldiagnostik als „Schutzmaßnahme“ sprach unter anderem ihre erwartete Finanzierung als Krankenkassenleistung im Zuge der Reform des Abtreibungsrechts. Erst in einem zweiten Schritt führten Veränderungen von Strukturen der Forschung, vor allem aber Erfahrungen in der gynäkologischen Praxis zu einer Neuausrichtung auf die Diagnostik und Prävention mehrheitlich erblicher oder spontan auftretender Anomalien. Die Pränataldiagnostik, so wie sie schließlich in Westdeutschland ab den frühen 1980er Jahren routinemäßig Einsatz fand, hatte mit Fragen der „Umwelt“ kaum noch zu tun. Diese Fallstudie zur Frühgeschichte der genetischen Pränataldiagnostik handelt von dem noch wenig untersuchten Verhältnis von humangenetischer Forschung, klinischer Praxis und Umweltforschung und hat zum weiteren Ziel, den bisher in anderen Kontexten beschriebenen Wandel von Perspektiven in der Vorsorge um 1970 zu beleuchten. (shrink)

Concerning the Crisis of the West German Politics of Limit Values in the 1970s: The Transformation of Cancer at the Workplace from a Toxicological into a Socioeconomic Problem. The paper tackles the changes that occurred in the political culture and the episteme of risk in the Federal Republic of Germany in the 1970s. The objects of observation are limit values for hazardous industrial materials, especially for carcinogens. At the forefront of the production of such values in Germany was the German (...) Research Society's Senate Commission for the Examination of Hazardous Industrial Materials. Limit values bring economy, politics, and science together and they mediate different interests. This makes limit values an ideal object of study to bring together changes in different parts of society. In 1972, a new category of limit values for carcinogenic substances is introduced, the so called „Technische Richtkonzentration”︁ (TRK). This category of values does not assume that complete safety can be reached, as do limit values for hazardous industrial materials, so called “Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen” (MAK). This means an important rupture in toxicological thinking. Until the 1970s, Paracelsus' dictum about dosage and poison still served as starting point for toxicologists. The innovation of TRK marks an important rupture in the episteme of regulating dangerous matters. Whereas until the 1970s there existed, at least as an ideal, the myth of “no risk” or “zero tolerance” even in the case of carcinogens, since the beginning of the 1970s, certainty is no more guaranteed by epistemically, but by socially robust knowledge. This also means the return of the risk society at the beginning of the 1970s, whereby cancer at the workplace becomes – in the view of the regulatory bodies – out of a medical problem a socioeconomic illness. The paper argues that these changes are connected to a general feeling of disorientation. (shrink)